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Martin Prinzhorn: Der autonome Raum

Letztendlich ist jede künstlerische Repräsentation mit der Tatsache konfrontiert, dass durch die Erscheinung, die Raum erzeugt, ein Konzept von Raum ausgelöst wird. Bilder entstehen über räumlichen Gehalt und räumliche Fülle, und in diesen Bildern wird Erfahrung repräsentiert. Mit solchen Einsichten haben die Theoretiker des 19. Jahrhunderts versucht, die klassische Kunst und ihr Verhältnis zur Natur näher zu bestimmen. Raum wird hier zu einem abstrakten Konzept, das irgendwo zwischen einer physikalischen und einer psychologischen Ebene liegt oder beide gleichzeitig besetzt, jedenfalls aber Ort für die künstlerische Simulation außerkünstlerischer Erfahrung ist. Es ist die große und bis heute viel zu wenig wahrgenommene Leistung der deutschen ästhetischen Theorie jener Zeit, von Hildebrand, Schmarsow oder Wölfflin, hier durch die Einbeziehung der jungen Wissenschaft der Psychologie in ästhetische Überlegungen ein Programm geschaffen zu haben, das an bestimmten Punkten die Dichotomie von Form und Inhalt aufgeben kann, da beide in der mentalen Konstruktion zusammenfallen. Genauso wie die Grenze oder die Form eines Objekts auf sein Volumen verwiesen, sei es möglich, behauptet Hildebrand 1893, 1) Objekte so anzuordnen, dass sie die Idee des Körpers der sie umgebenden Luft evozierten. Und stellt sich im weiteren die Frage, wie diese Objekte angeordnet werden müssen, so dass sie eine Kontinuität ergeben und nicht bloß fragmentarisch bleiben. Das einzelne Objekt wird zur strukturellen Komponente, seine Stellung in der Leere wird sowohl durch die allgemeine Entwicklung des Raumkonzepts bestimmt als auch durch seine besondere Fähigkeit, unser Konzept von Raum auszulösen oder zu beeinflussen. Am Schluss solcher Überlegungen steht die völlige Auflösung des autonomen Objekts, das nicht mehr außerhalb jenes Kontexts stehen kann, den der physische/mentale Raum definiert.
Im 20. Jahrhundert kommt es zu einer Rückkehr des autonomen Objekts, am explizitesten seltsamerweise in der amerikanischen Abstraktion: Dort mussten das Bild und die Skulptur auch ihren Kontext, ihre räumliche Verankerung loswerden, damit der gleichzeitig eliminierte figurative Gehalt der Werke nicht von außen her doch noch mit Bedeutung aufgeladen würde. Am Ende, nachdem die Reduktion zum monochromen Bild bzw. zur undurchsichtigen geometrischen Skulptur geführt hat, taucht der psychologische Raum allerdings wieder auf. Er drängt sich jetzt noch viel stärker auf als je zuvor. In den Werken des Minimalismus und der Arte Povera ist es gerade das äußerliche Fehlen einer mimetischen Figurativität, das einen Punkt erzeugt, an dem die reduktive Transparenz in ihr Gegenteil umschlägt und zu einer Art Barriere wird, hinter der sich Raum wie ein riesiger und unheimlicher Ort der Projektion öffnet. Der Raum kehrt als Bühne für eine neue Theatralität 2) zurück, in der sich das Objekt nochmals auflöst und zur Installation wird, während die Grenzen zwischen Skulptur und Architektur genauso verschwinden wie jene zwischen Figur und Abstraktheit. An einem Punkt dieser Entwicklung kann man aber wieder beginnen, sich zu fragen, wo jener Raum liegt, der die Möglichkeit einer Leere zulässt und der nicht einfach nur Locus einer projektiven Konstruktion ist. Nicht um Rekonstruktion des autonomen Objekts geht es dann, sondern darum, ob es noch einen Begriff von Räumlichkeit gibt, außerhalb einer allumfassenden Installation, also leere Bühne, weder vor noch nach einer Aufführung und vielleicht gar nicht zum Betreten gedacht. Die Hildebrandsche Luft ohne Objekte.
In ihren zum Teil in Zusammenarbeit mit Manfred Grübl entstandenen, installativen Arbeiten thematisiert Elisabeth Grübl Raum insofern anders, als sie ihn explizit ausstellt, in unterschiedlichen, aber immer minimalen Interventionen: Raumöffnungen werden mittels transparenten Membranen oder Glas verschlossen, so dass die BetrachterInnen keinen tatsächlichen Zugang haben und in dieser Ausgeschlossenheit die Erfahrung zu etwas wird, was dem oben beschriebenen Verschmelzungscharakter diametral entgegen steht. Raum lässt sich hier nicht als Erweiterung der in ihm enthaltenen Objekte oder BetrachterInnen wahrnehmen oder verstehen. In einer Arbeit wie O.T. (Nichts, No Thing) von 1998 ist eine dünne, grüne Plastikfolie in den Türstöcken zum Galerieraum hin angebracht, die zwar Einsicht in den verfärbten Raum gewährt, aber doch, fast mehr noch als eine verschlossene Tür, auch Ausschluss bedeutet, da die Schwelle gewissermaßen fassbar ist, während sich der Blick auf etwas Unerreichbares richtet. Raum ist nach unseren Wahrnehmungsmustern immer etwas Penetrierbares, Teil oder Erweiterung von uns selbst. In dieser Arbeit bekommt er etwas Statisches und Körperhaftes. Ein weiteres Element der Arbeit ist ein 20.000 Hz Sinuston im Stiegenhaus. Auch dieser unterstützt die Verschiebung in der Wahrnehmung: Das synästhetische sprachliche Bild eines Klanges, der einen Raum füllen kann, erhält in diesem Kontext eine neue, verstärkte und irgendwie wörtliche Bedeutung, da die akustische Ebene zusammen mit der visuellen ein taktiles Erleben auszulösen scheint. Die BetrachterInnen werden sozusagen von zwei Sinnen umklammert, um einen dritten zu simulieren und das physikalisch eigentlich Unmögliche zu erzeugen. Der Raum ist hier nicht Abgeschlossenes, unserem Blick Entzogenes wie in einer minimalistischen Skulptur, er ist sichtbar und zugleich objekthaft.
Dieser Unterschied lässt sich auch an einer frühen Arbeit aus dem Jahr 1992 zeigen, in der die Künstlerin einen riesigen Quader gleichsam simuliert, indem sie seine Kanten als Baumwollfäden in den Raum spannt. In der Installation O.T. (L/M/S) von 1997 ist die Türöffnung mit einem weißen, transparenten Material derartig abgeschlossen, dass die Öffnung völlig in die Wand integriert ist. So werden Bilder erzeugt, in denen die unterschiedlichen Perspektiven, die sich im dreidimensionalen Erleben auftun, auf eine zweidimensionale Fläche projiziert werden. Wieder wird der Eindruck erzeugt, dass der Raum nicht etwas ist, in dem man umhergehen und auf diese Weise sein sensorisches Erleben verändern kann, sondern etwas, um das man herumgehen kann.
Der Raum wird aber nicht tatsächlich zu einem festen Objekt, einer Betonskulptur Rachel Whitereads etwa vergleichbar, sondern behält seine Transparenz und führt uns nur auf der Wahrnehmungsebene in die Irre. In einer Installation in der Wiener Secession wird der Raum in ca. einem Meter Höhe durch eine zweiten, auf Holz aufgezogenen Teppichboden geteilt. Die neu entstandenen Räume sind von außen einsehbar, obwohl der untere Teil völlig im Dunkel liegt. Hier ist es keine Membran, die uns ein Eindringen tatsächlich verbietet, sondern es ist der gegen den begehbaren Raum gestellte Boden, der nicht mehr funktioniert. Anders als bei der Arbeit Acconcis in den siebziger Jahren geht es nicht mehr darum, den Raum der Kunst zu verändern oder zu hinterfragen, indem die Neutralität durch ein unheimliches Moment gebrochen würde. Sondern die Disfunktionalität materialisiert hier wieder etwas, was eigentlich nicht erfahrbar ist und nur durch den Moment des Ausschlusses erzeugt wird. Wieder wird dies von einem Ton begleitet, der in seiner Gleichförmigkeit die Leere gefrieren lässt. Die gesamte Architektur der Secession wird in einen Zustand versetzt, der das Verhältnis von Innen und Außen, von Geschlossenheit und Offenheit, von Körper und Körperlosigkeit in verschiedene Wahrnehmungsambiguitäten auflöst.
Eine andere Strategie, Raum als unabhängige Größe jenseits seiner Funktion zu manifestieren, verfolgen die interaktiven Installationen in der Galerie Mezzanin (1997) und der Galerie Anhava (2000). Hier ist es wichtig, sich die architektonische Charakterisierung des modernen Raums, wie sie von Mies van der Rohe und anderen entworfen wurde, vor Augen zu halten: Durch die Reduktion der Deckenhöhe, die Veränderung der Fenster und vieles mehr wird der Raum dem Menschen angepasst oder sogar unterworfen. Er wird kontrollierbar und hat nichts mehr von den sakralen Zügen der Vormoderne. In ihren Installationen scheint Grübl den Aspekt von Kontrolle zunächst noch zu verstärken: Der Ausstellungsraum wird durch eine vertikale Jalousie geteilt, die sich, von Bewegungsmeldern gesteuert, öffnet und schließt. Was entsteht, ist etwas Unvorhersehbares, und so verkehrt sich die Kontrolle durch die im Raum befindlichen Leute in ihr Gegenteil. Das Ausdehnen und Reduzieren des Raumes schafft gleichsam ein Zuviel an Kontrolle, plötzlich wird hier ein Eigenleben suggeriert, das die Beziehung umkehrt und vorgibt, dass der Raum auf uns in einer Art reagiert, die uns in unseren Handlungen beschneidet. Diese vorgebliche Intentionalität hat einen ganz ähnlichen Effekt wie die anderen Arbeiten: Raum ist hier nicht einfach Träger oder Behältnis von Objekten oder Menschen, er ist keine Leere, die auf einen Auftritt wartet, sondern er führt ein unabhängiges Eigenleben. In einer späteren Version der Arbeit wird noch eine dritte Ebene eingeführt, die Jalousie wechselt hier zwischen drei Positionen: offen – geschlossene weiße Fläche – geschlossene Spiegelfläche. Das Verhältnis zwischen physischer und mentaler Veränderung wird nochmals manifest und beide Definitionen von Raum werden gleichzeitig angesprochen.
Um diese Eigendynamik der räumlichen Qualität geht es auch in einer neueren Arbeit (0.T., 2004), in der ein länglicher Raum von einem Laser abgetastet wird, der, zuerst punktförmig, sich zu einer horizontalen Linie verlängert und dann wieder auf einen Punkt reduziert. Zwar ist es ein vorgefundener, fixer Raum, in dem die Arbeit installiert ist, aber das Abtasten, Ausdehnen und Zusammenziehen verweist auch hier wieder auf etwas, das nicht einfach Leere ist und nur von seiner Umgebung abhängig, sondern das selbst Materialität annehmen kann, wenn die Künstlerin unsere Wahrnehmung zu dieser Erkenntnis führt.
Das wellenförmige Spiel der Kunst zwischen Gegenstand und Kontext, der physischen und der psychologischen Ebene, Inhalt und Form und Innen und Außen wird in der Arbeit von Elisabeth Grübl aus einer neuen Perspektive wieder aufgenommen. Die Geschichte der Beziehungen von Theorie und Praxis vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zeigt, dass diese Fragestellungen – zumindest in der bildenden Kunst – immer vom Objekt und seiner Situierung ausgegangen. Es wurde immer versucht, das Objekt entweder zu autonomisieren oder im architektonischen bzw. mentalen Raum zu kontextualisieren. Wenn Hildebrand eine Antinomie zwischen inhärenter und effektiver Form postuliert, wird genau dieser Gegensatz zwischen einer messbaren, natürlichen Form, die von ihrer Umgebung unabhängig ist, und einer Form, die nur in einem spezifischen Kontext, in bestimmten Licht- und Perspektivverhältnissen wahrnehmbar ist, angesprochen. Grübl zeigt in ihren Arbeiten zunächst die effektive Form räumlicher Leere und Luft. Aber dadurch, dass sie die eine Seite dieses Formbegriffs klärt, weist sie in weiterer Folge auch auf die andere Seite hin, auf einen leeren Raum als inhärente, autonome Form. Das Wechselspiel wird um eine wichtige Dimension erweitert, da nicht nur ein Objekt von Luft umgeben sein, sondern auch die Luft zum Objekt werden kann, von anderen Objekten umgeben – oder auch nicht.
1) Adolf Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst. Straßbourg: Heitz & Mündel, 1893

2) Michael Fried, “Art and Objecthood.” In: Art Forum 1967