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Patricia Grzonka: Bild, Wirklichkeiten. Elisabeth Grübls Textarbeiten
Textobjekte
Rund zehn Textobjekte hat Elisabeth Grübl in ihrer künstlerischen Praxis bisher realisiert. Sie folgen alle dem gleichen Prinzip und sind doch so unterschiedlich. Es sind zumeist in Großbuchstaben geschriebene englische Wortpaare oder Wortfolgen, die eine Art Gegensatz bezeichnen: before_after, nowhere_everywhere, it is_it is not, absence_presence, ever_never, on the one side_on the other side, socialism_capitalism, on the one hand_on the other hand.
Die Buchstaben dieser Wörter werden in einer Höhe von 26 Zentimetern aus MDF-Holz mit Laser ausgeschnitten und mit Acrylfarbe gestrichen. Sie werden in einem sehr präzisen Vorgang direkt an die Wand montiert und zu einem verdichteten Objekt zusammengefügt, das die Wörter zwar noch als lesbar erscheinen lässt, aber gleichzeitig auch verfremdet. Für die Betrachter*innen kann erst durch diese Verfremdung ein Denkprozess starten, in dessen Verlauf sich Geschriebenes, Bezeichnetes und als Bild–Sich–Manifestierendes überlagern.
Das Objekt after_before (2020) zum Beispiel ist so arrangiert, dass, so denken wir, das Wort before die Grundlage oder Rückseite des Wortes after bildet. Grübls Arrangement widerspricht also nicht der getätigten Aussage, sondern scheint die Aussage im performativen Akt zu bestätigen. Die Künstlerin hat in dieser Arbeit eine Visualisierung – ein „Bild“ – gefunden, das in einer größtmöglichen Verdichtung die Wortaussage unterstützt. Wir folgen den einzelnen Buchstaben und denken uns eine These aus, weshalb das letzte E von before hinter dem R von after hervorragt.
In einer ähnlichen Weise funktionieren auch Wortpaare wie nowhere_everywhere, ever_never oder absence_presence, die durch die unterschiedlichen Wortlängen zu unterschiedlichen Schriftbildern führen, jedoch in einem einheitlichen semantischen Bedeutungsfeld bleiben. Ganz anders als beispielsweise socialism_capitalism (2019). Hier werden einem gleichsam zwei Seiten einer Medaille vorgeführt, und es scheint gleich ums Ganze zu gehen, um nichts weniger als um politische Ideologien. Als Schriftbild ist diese Arbeit komplizierter als die durch die Doppelung der einzelnen Buchstaben Redundanz evozierenden Adjektivpaare. socialism_capitalism wirkt rätselhaft und unentzifferbar, eine fremde Sprache? Aber welche?
Elisabeth Grübls Textobjekte sind aus einer Faszination für Begriffe und deren Bedeutungen entstanden, die sie in eine räumliche Disposition setzt. So sind ihre Arbeiten generell von einem starken räumlichen Bezug geprägt, allen voran in der Serie studio #, Verdichtungen von Ateliers (ab 2008), mit denen sie die Fragen von Raumkonzeption oder Erkennbarkeit eines einzelnen Ateliergegenstands sowie das Evozieren neuer Bedeutungskonstellationen miteinander in ein neues Verhältnis setzt. Die weitere Faszination für Gegensätze – oder das, was wir als solche erachten – brachte sie aber auch 2006 Westbahnstraße gemeinsam mit Sabine Heine zu einer Intervention im öffentlichen Raum – oder vielmehr handelt es sich in diesem Fall um privaten Raum an der Schnittstelle zum öffentlichen. Eine Arbeit, die neben einem starken konsumkritischen vor allem auch einen genderbewussten Aspekt umfasst. be a good girl ist der Name eines Wiener Friseurgeschäfts an der Westbahnstraße, dessen Bezeichnung in großen Lettern auf der Glasfassade des Ladenlokals angebracht ist. In einer unangekündigten (und, demnach auch ordnungswidrigen) Intervention, tauschte die Künstlerin ein Wort in einer tatsächlichen Nacht– und Nebelaktion zu be a bad girl aus. Die Aussage, die in den Textobjekten durch Komprimierung eines Gegensatzpaares verdichtet ist, wurde hier durch Austausch eines vollen Wortes in ihr Gegenteil verkehrt. Der neue Buchstabenabstand musste im Vorhinein berechnet werden, und so grenzt die perfekte Simulation der konträren Evokation beinahe an Zauberei.
Die Frage, wie Sprache Bedeutung herstellt und wie sehr diese an unsere Wahrnehmung gebunden ist, liegt dabei am Ursprung eines linguistischen Modells von Semantik. Durch die Entkopplung von Signifikat und Signifikant, wurde in den 1910er-Jahren von Ferdinand de Saussure die Grundlage gelegt, auf der sich später nicht nur die moderne Sprachwissenschaft, sondern auch eine sprachbasierte avantgardistische Kunst entwickeln konnte. Der französische Dichter Stéphane Mallarmé jedoch entwickelte bereits im späten 19. Jahrhundert auf dem Postulat einer phonetisch und semantisch autonomen Sprache neben einer Kritik der Warenförmigkeit der heraufziehenden Massenkultur ein ästhetisches Modell für die Begrifflichkeit von Autonomie und für die radikale Neuorientierung, die in das Abstraktionsprogramm der klassischen Avantgarden mündete.
Sprache und Texte als eigene künstlerische Sphäre zu betrachten, die sich zwar mit der Wortbedeutung im engeren Sinne decken, aber gleichzeitig auch in der reinen „Selbstbezüglichkeit“, d.h. Selbstreferenzialität1, verharren und daraus einen neuen Sinn beziehen, wird in der Folge alle sprachbasierten Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts beeinflussen: Vom Dadaismus zur Direktheit der Konkreten Poesie, bis zu den konzeptuellen Wortfolgen der Neo-Avantgarden der 1960er- und -70er-Jahre. In Österreich waren es zunächst die Mitglieder der Wiener Gruppe – vor allem Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer und Gerhard Rühm –, die sich mit dem Bedeutungspotenzial der Lautsprache, beziehungsweise deren Zeichensprache befassten. In der Schweiz wiederum wurde Konkrete Poesie zum Label eines extrem reduzierten, nicht weiter ausdifferenzierbaren Umgangs mit dem Buchstaben und dem Wort.
Fotoarbeiten
Text in der Sprache in seine Bestandteile zu zerlegen, ist die eine Seite einer „Sprach-Kunst“. Die andere jedoch ist es, das Wort gleichsam als Bild zu betrachten. Die Leerstelle zwischen Bedeutung und Bild, die eine semiologisch orientierte Kunst seit René Magritte („Ceci n‘est pas une pipe“) oder Marcel Broothaers immer wieder an die Grenze zwischen dem „Sagbaren“ und dem „Sichtbaren“ geführt hat, ist der Raum für das ästhetische Projekt im Spätmodernismus schlechthin. Der „Riss“ zwischen der Realität, zwischen sprachlicher und visueller Bedeutung, zwischen Signifikat und Signifikant lässt sich niemals schließen, wie Sabeth Buchmann und Rainer Bellenbaum in ihrem Katalogbeitrag zur von Heinrich Dunst kuratierten Ausstellung „Riss/Lücke/Scharnier A“ aus dem Jahr 2010 festhielten.2 War die Dominanz des linguistischen Zeichens seit den 1960er-Jahren in der Nachfolge Roland Barthes noch dafür verantwortlich, dass sich viele europäische und US-amerikanische Konzeptkünstler diesem Projekt verschrieben haben, so hat sich ab den 1980er-Jahren mit dem vom Kunsthistoriker W.J.T. Mitchell ausgerufenen Pictorial Turn ein deutlicher, neuer Trend angekündigt.3 Und mit der Verbindung von Text, Wort, Buchstaben zum Bild kommen wir schließlich auch zu einer Reihe von österreichischen Künstler*innen – nicht nur diese natürlich4 –, die genau in jener Zeit angefangen haben, sich mit den visuellen Möglichkeiten von Texten zu befassen: Heimo Zobernig, Gerwald Rockenschaub oder Heinrich Dunst.
Elisabeth Grübl ist mit ihren textbasierten Arbeiten nicht nur eine der wenigen Künstlerinnen, die sich in diesem Feld der visuellen Repräsentation angesiedelt haben. Sie hat gleichzeitig auch ein neues Feld der Hinterfragung der Bildwirklichkeit eröffnet. In einer Serie von Fotoarbeiten, die seit 2010 entstanden sind, wird die Reihe der Textobjekte insofern weitergeführt, als dieselben Wortfolgen in Fotografien von Stadtlandschaften montiert werden. Meist sind es einzelne, markante, jedoch unspezifische Gebäude, die Grübl zu einer virtuellen Intervention veranlassen: eine karge, villenartige Betonarchitektur an einer Straßenkreuzung in Havanna etwa, oder ein typisches Gebäude im protzigen Stalinbarock in Warschau. In diese oft aufwändig mit mehreren Kameras oder in mehreren Aufnahmen produzierten Fotografien setzt Grübl an passenden Stellen ihre Wortfolgen wie eine Art Werbung auf fiktive Anzeigentafeln, Billboards oder Straßenschilder. absence_presence (2017) steht so auf einem Billboard in Kuba vor einem modernistischen kubischen Gebäude und verweist genau auf diese Leerstellen, die sich zwischen der zeichensprachlichen Referenz und dem Bildraum öffnen.
tomorrow_yesterday dagegen befindet sich auf einer riesigen, über vier Stockwerke reichenden Baupläne-artigen Folie auf einem sozialistischen Wohn- und Büroturm in Warschau (2018). Die bezeichnenden Wörter sind jetzt nicht mehr nur auf sich geworfen – selbstreferenziell –, sondern sie treten in einen Dialog mit einer Umgebung, in die sie scheinbar so selbstverständlich hineinpassen, dass man auf den ersten Blick nicht erkennt, dass es sich bei diesen Konzeptfotografien um virtuelle Arbeiten handelt, oder vielmehr um eine Kombination aus Digital-Fotografie und digitaler Nachbearbeitung.
Die Platzierung der Texte in den Fotografien folgt dabei auch einer poetischen Logik. So befinden sich etwa die Wortfolgen it is_it is not an einem Baucontainer und am Rand einer Brüstung auf dem Dach eines mehrstöckigen, regelmäßig gegliederten Gebäudes (Warschau, 2018), an dem bereits ein vertikaler Neon-Schriftzug ein Hotel ankündigt. Einmal könnte man dies als einen Hinweis auf eine Baufirma verstehen, das andere Mal aber entweder als Werbung oder tatsächlich auch als Kunst am Bau-Projekt.5 In jedem Fall aber hat die Schrift hier durch die bewusste Platzierung, durch die Nüchternheit der schwarzen Buchstaben auf dem weißen Grund und durch die Setzung an einer bestimmten Stelle auch eine Kommentarfunktion, die mal witzig, mal ironisch, aber auch manchmal kritisch zu lesen ist. Grübls Schriftzüge auf weißem Grund ersetzen dabei meistens Werbungen, was der poetischen Botschaft einen utopischen Touch verleiht. Evident wird dies bei der Arbeit nowhere_everywhere mit der Verwendung eines Fotos von einer Schnellstraße bei Warschau. Die Wörter sind perfekt in ein Schild montiert, das sich über die Böschung erhebt. Durch die Schnee- oder Wintersituation verschwinden die Buchstaben im Nebel, sie scheinen sich im Himmel aufzulösen.
Mit solchen lakonischen, hintersinnigen Kommentaren hinterfragt Elisabeth Grübl in ihren Fotoarbeiten nicht nur die Bildwirklichkeit, die sich jederzeit als eine „gefakte“ herausstellten kann, sondern sie erweitert damit auch die Begrifflichkeit von site-spezifischer Kunst. Denn die eminent politische Geste, eigene Kunst in den öffentlichen Raum zu setzen, die nicht autorisiert ist, und Werbung gegen nichtkommerzielle Kommentare auszutauschen, heißt auch die Grundlagen der historischen und sozialen Gegebenheiten eines bestimmten Ortes zu hinterfragen. Dass sich Elisabeth Grübl dabei selbst autorisiert, lässt die Projekte als künstlerische Visionen von hoher Suggestionskraft erscheinen, in deren Verlauf nicht mehr zu unterscheiden ist, ob ein Bild der Realität entspricht oder nicht. So ist es gerade die Ununterscheidbarkeit von Vision oder Realität in der perfekten Simulation, welche in der Bildwirklichkeit aufgehoben ist. Und diese ist, so sagt uns die Künstlerin, die eigentliche Realität.
1) Der Begriff der Selbstreferenzialität, der wie sein Schwesterbegriff der Kunst-Autonomie auf Kant zurückgeht, ist ein Schlüsselbegriff des Kunstdiskurses im 20. Jahrhundert. „Selbstreferenziell“ und „autonom“ wurden im 20. Jahrhundert nachgerade zu synonymen Begriffen und spielen vor allem in der Sprachtheorie, aber auch in Kunst und Architektur eine herausragende Rolle.
2) Rainer Bellenbaum und Sabeth Buchmann, „Risse/Lücken/Scharniere“, in: Heinrich Dunst/Walter Pamminger (Hg.), Riss/Lücke/Scharnier A, Galerie nächst St. Stephan Wien und Scheidegger & Spiess, Zürich, 2010, S. 155–165
3) W.J.T. Mitchell: The Pictorial Turn, in: Art Forum International, March 1992, Quelle: artforum.com/print/199203/the-pictorial-turn-33613
4) Künstler*innen wie On Kawara mit seinen Datumsbildern, Christopher Wools grafische Wortmalereien, Remi Zauggs Wortbilder („Ein Bild. Ein Wort“), Timm Ulrichs‘ Wortspiele („Now - Nowhere“) oder auch Künstlerinnen wie Bethan Huws und Hanne Darboven sind Protagonist*innen internationaler Kunst, die sich dem Doppelsinn von geschriebener Sprache und Bildästhetik buchstäblich „verschrieben“ haben.
5) Ich denke da an eine ähnliche Intervention an einer Dachbrüstung an einem Gebäude an der Wiener Mariahilfer Straße, wo in einem Projekt von Arnold Rheintaler das Wort „Tomorrow“ in LED Leuchtschrift zu lesen ist.