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Margareta Sandhofer: Das Atelier
Das Atelier des Künstlers oder der Künstlerin ist ein besonderer Ort. Kein Atelier gleicht einem anderen, es ist höchst individuell. Es spiegelt das fertige wie das unfertige Werk, den Arbeitsprozess und sogar die Ideen, die Gewohnheiten, die Lebenssituation des Künstlers. Das Atelier ist in erster Linie Territorium und vor allem intim:
„Das Atelier ist mein Zuhause. An keinem Ort der Welt fühle ich mich so zu Hause wie in meinem Atelier, welches wiederum an jedem Ort sein könnte. Es ist deswegen ein von mir geschützter Raum, welcher nur für manche zugänglich ist.“1
Honoré de Balzac gibt in atmosphärischer Sprache das Atelier des legendären Malers Frenhofer als einen mythischen Ort wieder, als den geheimnisvollen Schauplatz, in dem das Genie das Kunstwerk als unerklärliches Phänomen erschafft, das einer überirdischen Welt angehört.2 Rainer Maria Rilke verleiht den Werkstätten Auguste Rodins in seinen Schilderungen geradezu sakrosankten Charakter.3 Heute haben sich derart lyrische Betrachtungen relativiert. Sarah Thornton berichtet vom Atelier von Takashi Murakami als straff durchorganisierte Maschinerie, die mit dem einzigen Ziel der höchsten Effizienz am Kunstmarkt betrieben wird.4 Doch selbst dann bleibt das Atelier von Murakami von einem geheimnisvollen Nebel umgeben. Lag das Geheimnis in den älteren Schilderungen im phantastischen Pinselstrich, in Geste und Farbe, oder im Genie der plastisch formenden Hände, ist es nun in die perfekte Symbiose von Kalkulation, digitalem Rechenapparat und exakter Ausführung verlegt.
Auch wenn die heutigen Ateliers ganz anders aussehen als in Balzacs Erzählung, ist der Mythos doch geblieben: die geheimnisvolle Stätte genialen Schaffens. Das auch, da es nicht jedem vergönnt ist, einen solchen behüteten Ort aufzusuchen; man das, was dort den Ursprung hat, später im überhöhten Rahmen der Galerie oder des Museums zu sehen bekommt; oder es in der Auktion zu phantastischen, mitunter unerklärlichen Preisen präsentiert wird.
So sind Atelierbesuche in Veranstaltungskatalogen von Festivals, Art Weeks und ähnlichem ein heiß begehrtes Angebot. Die Besucher sind angehalten sich mit Sorgfalt zu bewegen, respektvoll und andächtig vor dem Kunstwerk zu verhalten. Man dringt denn doch in den von der Außenwelt abgeschirmten Raum ein, ist, wenn nicht mit der kunstschaffenden Person vertraut, ein Fremdling. Als Geburtsstätte von Kunst ist dieser geschützter Raum des Ateliers ein empfindlicher Bereich, mit unergründlichen Inhalten aufgeladen, Ort der Muse, Ort der Intuition und Imagination. Durch die Jahrhunderte bleibt das Atelier als Ort mit Kultcharakter bestehen.
Elisabeth Grübl räumt mit diesem Mythos des Ateliers auf und führt insgeheim eine unterschwellige Attacke auf den ganzen Mechanismus des Kunstmarkts.
Seit 2007 betreibt die Künstlerin ihre Serie der Verdichtungen: Sie versammelt im Atelier einer anderen Künstlerin oder eines anderen Künstlers alle darin befindliche Gegenstände und schlichtet sie zu einem orthogonalen Block. Die bisherige Ordnung ist radikal einem anderen System unterworfen, dem abstrakten Gesetz der ausnahmslosen Rückführung auf einen Quader. Die Gegenstände sind nicht nach ästhetischen Kriterien arrangiert, sondern rein nach Volumen, Masse und Statik. Elisabeth Grübl unterzieht durch ihren Eingriff das Atelier einer Transformation, bannt es in eine codierte Skulptur. Das endgültige Werk ist ein in sich verstrebtes Dickicht in der Form eines kompakten Quaders, ein mathematisches Konstrukt, in seiner Gegenständlichkeit realitätsnah und doch absurd. Das wundersame Kunstschaffen ist reduziert auf Fragen der linearen Koordinaten und ihre physische und messbare Relation zueinander, verpackt und ins Innere des Quaders verlegt. Der vielteilige Kosmos des Künstlers, seine mythische Wunderwelt ist einer rigiden Rationalität gebeugt.
Bis 2021 sind 22 derartige skulpturalen Arbeiten entstanden.
Elisabeth Grübl ist wie jeder Besucher im jeweiligen Atelier ein Fremdling, doch bewegt sie sich nicht mit der gebotenen Behutsamkeit. Sie, die Künstlerin, dringt ein in das fremde Revier, bemächtigt sich seiner. Sie beansprucht das Territorium als das ihre. (Auch wenn ihr das Territorium voll freudiger Erwartung und Spannung überlassen worden ist.) Immer erfordert die Arbeit ein gründliches Eingehen auf die jeweilige Raumsituation, ein Überdenken der Positionierung des Quaders, der meist frei im Raum stehen sollte. Die einzigen Hilfsmittel sind Seile und Schnüre zum Stabilisieren.
Die Verdichtungen der Atelierinventare sind eine radikale Konsequenz von Elisabeth Grübls Haltung, die mit Vorliebe in ihren Interventionen in musealen Institutionen diese selbst unterläuft, überlistet und auf den Kopf stellt. Nun ist ihre subversive Strategie vom Ort der Repräsentation der Kunst in deren Geburtsstätte getragen. Sie verschiebt die Relationen von Kunstwerk, Raum, Licht und Arbeitsbedingungen und verpackt das Ganze in ein kompaktes Konstrukt. Die Anarchie ist das Prinzip: Mobiliar, Utensilien und selbst Kunstwerke werden ohne Wertung zu Baumaterial. Die Gegenstände bleiben dieselben, nur das Verhältnis zueinander ist ein anderes. Das vorherige Gefüge ist dekonstruiert und zersetzt, ein neues Gefüge beherrscht monolithisch und absolut den Raum. Ihm stellt sich die nun sichtbare Leere des Raumes als paradoxes körperliches Gegenüber entgegen. Die in der Kunstwelt sonst gepflogene Repräsentation ist in ihr Gegenteil gekehrt.
Der Künstler5 ist seiner Kunst nicht mehr habhaft. Diese ist zum Teil nicht mehr ersichtlich, nicht mehr präsentierbar und nicht mehr verkäuflich. Die Gegenstände sind ihrer Funktion beraubt, der Künstler ist seines Ateliers und damit seiner Arbeitsfähigkeit beraubt und zum Besucher seines einstmals eigenen Ateliers oder zum Aufseher degradiert. Der Künstler und die Kunst sind suspendiert, an ihrer Stelle herrscht die Ordnung. Somit ist auch der Betrachter suspendiert – oder ziemlich gefordert.
Die künstlerische Produktion ist zum Stillstand geführt, ihre Entfaltung ist rückgängig gemacht. Alle Spuren, alles zuvor im Atelier noch Geschehene, Zeitabläufe und Tätigkeiten, die lesbar gewesen wären, sind kurzgeschlossen und auf einen Punkt gebracht. Die Zeit ist komprimiert auf einen Moment in einer unbeweglichen Statik. Das Atelier ist zur geometrischen Zeitkapsel verdichtet, die solitär in der Leere des Raumes steht.
Elisabeth Grübl fotografiert ihre Interventionen und nummeriert sie chronologisch. Die Fotografie einer Verdichtung, vor allem in der streng zentralperspektivischen Frontalansicht, ist mehr als ihre Dokumentation. In ihrer Ästhetik, die das Volumen in der Fläche verspannt, ist dieser Stillstand zur monumentalen Starre intensiviert, Raum und Zeit sind eingefroren. Das Prinzip kehrt sich wieder um, der Moment wird zur Dauer.
Elisabeth Grübls Intervention ist eine Inversion der vorherigen Situation, schillernd in vielfacettierter Ambivalenz. Sie hat eine Ausstellung kuratiert, die die Kunst aufgeräumt und sich einverleibt hat. Das Atelier hat sich mit seiner Funktion in sich selbst zurückgezogen und hermetisch vor Eindringlingen abgegrenzt. Das Kunstschaffen ist implodiert, kraft eines Ordnungssystems, das die Kunst nihiliert. Mit der Rückführung von Kunst in profanste Gegenständlichkeit ist unmittelbar die Frage nach der Relevanz von Kunst und Künstler aufgerufen. Wir stehen angesichts von Elisabeth Grübls Verdichtungen vor einer Konstruktion von Wirklichkeit, die simultan die Realität als Konstruktion entlarvt.
Das bearbeitete Atelier erscheint asketisch und seines Sinnes entleert, der Sinnzusammenhang ist auf den ersten Blick ad absurdum geführt. Wir begegnen einem zugespitzten Minimalismus, einem Quader im Raum, dessen Ebenmäßigkeit allein gestört ist durch die Struktur, die die Gestalt der Gegenstände vorgibt. Es ist ein gestörter Minimalismus. Die Ästhetik liegt in der Handlung und zwar in der Radikalität der Handlung. Die Präsenz der Kunst liegt in ihrer offensichtlichen Absenz, ihre Gegenwärtigkeit ist eine Frage der Wahrnehmung. Es dreht sich um Raumwahrnehmung und Raumvorstellung als ästhetische Momente von „Welterzeugung“.
Wie die Kunst in der Skulptur sich in das Innere entzieht, so wenig ist der Weg zu diesem Abstraktum offenbar. Elisabeth Grübl präsentiert lediglich ihr vollstrecktes Werk als temporäre Intervention und die dazugehörige Fotografie. Die vorherige gegenständliche Ausbreitung, der Mythos Atelier wird temporär zu einem undurchschaubaren Gefüge verdichtet, das keine andere Narration vorträgt als die der Verschachtelung, der totalen Verknappung. Die Künstlerin platziert damit ihr Geheimnis auf dem Platz des anderen Geheimnisses, hat es diesem gnadenlos übergestülpt. Ist der Mythos des Ateliers nun aufgeräumt oder potenziert?
1 Béatrice Dreux, S. 138. in: Elisabeth Grübl, Wien, 2012
2 Honoré de Balzac, Das unbekannte Meisterwerk, Erstveröffentlichung 1831
3 Rainer Maria Rilke, August Rodin, Erstveröffentlichung 1913
4 Sarah Thornton, Sieben Tage in der Kunstwelt, Erstveröffentlichung 2008
5 „Der Künstler“ steht im Text stellvertretend für alle geschlechtlichen Formen, der besseren Lesbarkeit geschuldet.