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David Komary: Von Voumen doppelter Absenz
Zur Raumevokation in der Studio-Serie von Elisabeth Grübl
Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. (...) So ist der ästhetische Raum (...) ein Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt. Ernst Cassirer
Die temporären skulpturalen Anordnungen, die Elisabeth Grübl in der Fotoserie Studio porträtiert, konstituieren sich aus Gegenständen und Objekten, die sie in Ateliers anderer KünstlerInnen vorgefunden hat. In den Fotografien Studio #10-#16, auf die sich die folgenden Überlegungen konzentrieren, verdichtet sie sämtliche Ateliergegenstände des jeweiligen „geliehenen“ Ateliers zu einer streng kubischen Anordnung. Mobiliar, Gerätschaften, aber auch Kunstwerke – beispielsweise verpackte Bilder – werden zu einer meist zentrisch im Atelierraum platzierten Stapelung aufgetürmt. Die jeglicher Funktion enthobenen Ateliergegenstände werden zu Variablen skulpturaler Anordnung. Der Kubus bildet in diesem ästhetischen Prozess die wesentliche räumliche Konstante, doch scheint weniger das spezifische Kompositum der Gegenstände innerhalb dieser Metaform von Interesse als schlichtweg die radikalste Form der Verdichtung. Auf diese Weise entsteht eine absurd anmutende räumliche Situation, das jeweilige Atelier befindet sich in einem Ausnahmezustand, wobei der Raum typologisch umbestimmt wird.
Die Künstlerin arbeitet innerhalb eines knapp bemessenen Zeitraums, verhältnismäßig wenige BetrachterInnen sehen die Skulptur also in situ, bevor sie nach nur wenigen Tagen wieder abgebaut und das zweckentfremdete Studio in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt wird. Schon im Entstehen der Raumskulptur ist eine Ästhetik der Absenz angelegt: Die Stapelungen erscheinen als massive Zeichen künftiger Abwesenheit.
Grübls Studio-Serie handelt auf den ersten Blick von der räumlichen Präsenz der meist monolithisch anmutenden Stapelungen. Der Betrachter wird jedoch auf mehrfache Weise, semantisch, phänomenologisch, medienontologisch, mit Figuren der Absenz konfrontiert: Zum einen bildet die dysfunktionale Anordnung der Ateliergegenstände in der Raummitte eine semantische Leerstelle, zum anderen wird der leere Umgebungsraum, der architektonische „Behälter“, freigelegt. Nicht zuletzt erweist sich der mediale Status der Skulpturen im Verhältnis zu ihrem fotografischen Abbild als paradox und lässt mehrere, teils einander widersprechende Lesarten zu. Die Ambiguität von Fülle und Leere, von Formen der Präsenz und der Absenz, spitzt sich insbesondere in der bildlichen Repräsentation der skulpturalen Anordnungen zu: Das Medium der Fotografie bildet ein Scharnier zwischen An- und Abwesenheit. Dabei gibt das Bild nicht ein Vergangenes, Abwesendes wieder, sondern fungiert als Medium, das die Kommunikation zwischen Präsenz und Absenz herstellt und das komplexe Verhältnis von Fülle und Leere in Grübls Arbeiten zum integralen Teil des Beobachtungsdispositivs macht.
Wenn die kubische Stapelung im Atelierraum auch massiv anmutet, so wirkt die Skulptur zugleich auf gewisse Weise zurückhaltend. Die auf engstem Raum komprimierten Gegenstände scheinen sich im Vergleich zur ursprünglichen Verteilung innerhalb des Studios möglichst klein zu machen. Ein Raumgefüge des vorherigen Ateliers zieht sich auf kleinstem Raum zurück und verhilft auf diese Weise einem zweiten, „leeren“ Raum zur Sichtbarkeit. Lenkt man den Fokus nun von der Bildmitte, der Skulptur, auf den freigelegten Raum, wird ein komplexes Feld bildräumlicher Umkehrfiguren und Paradoxien lesbar. Wie lässt sich der Status dieses leeren Raumes beschreiben? Kann man hier von einem Figur-Grund-Verhältnis sprechen? Ist dieser Raum Hintergrund und Umgebungsraum, d.h. dem augenfälligen, skulpturalen Geschehen untergeordnet, oder verweist er auf eine Art Metaraum, auf Raum im Sinne einer apriorischen abstrakten Größe, die unabhängig von der Präsenz des Betrachters ist?Auf diese Frage werden Grübls Arbeiten keine eindeutige Antwort geben. Stattdessen ist der Betrachter mit der Simultanität unterschiedlicher, teils divergierender und unvereinbarer Raumvorstellungen konfrontiert, die ihn auf den eigenen Standpunkt zurückwerfen und ihm den eigenen Blick und die ihm eingelagerten Formen von Raumvorstellung vor Augen führen.
Zentralperspektivisches Dispositiv, Fotografie und Behälterraum
Grübls Umgang mit Raum ist oftmals paradox, teils scheint es, die Künstlerin, vom ästhetischen Zugang her wesentlich Bildhauerin, arbeite gar gegen das eigene Medium. In bestimmten Arbeiten wird die phänomenologische Erfahrbarkeit, die Begehbarkeit des Raums, erschwert, wenn nicht gar verhindert. Grübl schränkt die Variabilität des Standpunkts und damit die Bildung differenter Anschauungen ein. So wurde in der Rauminstallation 9000 Hz in der Wiener Secession (1998) dem Betrachter der Blick auf die Rauminstallation von einem Standpunkt außerhalb dieser Installation gewährt. Wenn auch das Begehen der Rauminstallation theoretisch möglich war, so wäre es doch beschwerlich gewesen und daher unwahrscheinlich. Der Ausstellungsbesucher sah die Rauminstallation durch das Geviert der Türöffnung gerahmt und auf diese Weise ikonisiert.
In der Studio-Serie geschieht eine noch explizitere Wendung ins Piktorale. Der Betrachter sieht sich Fotografien der Skulpturen gegenüber, die auf einen klaren Beobachtungsstandpunkt rekurrieren: Die frontale Aufnahme weist dem Sehenden einen eindeutigen Standpunkt zu und wirkt dadurch blickzentrierend. Die fotografische „Rahmung“, das fotografische Dispositiv, mit seiner Nähe zur zentralperspektivischen Bildregie, wird zugleich als generatives, raumkonstituierendes Element lesbar.Nicht die Physis des räumlichen Volumens, das „Was“ der Wahrnehmung, bildet das Thema, sondern das vom Dispositiv der Anschauung bestimmte „Wie“. Ob nun realiter angesichts der Skulptur im Raum oder fotografisch-imaginär in der Studio-Serie, stets erweist sich der eigene Standpunkt als wesentliches Konstituens der Raumvorstellung.
Grübls Arbeiten rekurrieren auf Formen ordnender Reduktion und der Geometrisierung. Der Kubus scheint, ob in der Figuration gestapelter Ateliergegenstände oder als Referenz auf die Euklidsche Triaxialität und die zentralperspektivische Bildgeometrie, auf den ersten Blick stets eine gewisse Raumordnung zu sichern. Doch steht diesem rezeptionsästhetischen Moment vermeintlicher Gewissheit eine konzeptuelle Dimension gegenüber, die nicht unmittelbar visuell wahrgenommen werden kann. Der produktionsästhetische Prozess Grübls, das Arrangieren, Stapeln, Schichten der Gegenstände, das gesamte Register notwendiger Raumhandlungen, das zur Genese dieser paradoxen, temporären Skulptur erforderlich ist, stellt der schlichten, abstrakten kubischen (Meta-)Form ein dekonstruierendes und dissoziierendes Moment gegenüber. Neben der Bildung der geometrischen Form rücken Auflösung und Zersetzung des ursprünglichen Ordnungsgefüges und die mit ihnen einhergehende Umsemantisierung des Studios in den Vordergrund. Der Konstruktionsprozess der kubischen Skulptur basiert demnach auf dem dialektischen Verhältnis von Konstruktion und Dekonstruktion, von Zentrierung und Dezentrierung.
Die Linie als Markierung doppelter Abwesenheit
Bereits in Grübls Arbeiten der 1990er Jahre findet sich das Motiv der Entmaterialisierung, die Inszenierung von raumevokativen Absenzen. In diesen Skulpturen umreißt die Künstlerin mit wenigen orthogonal aufgespannten Fäden einen kubischen Raum im Raum. Der Betrachter beginnt die Umrisslinien geradezu unwillkürlich mit imaginären transparenten Flächen (z.B. Glasflächen) zu „füllen“. So auch bei der Fotografie Ohne Titel/Ostia (2007), die die Figuration eines linearisierten Raumvolumens in Form eines Stahlrohrskeletts zeigt, das eine Sportfläche umgrenzt. Wenn die linearisiert-geometrische Form hier auch nicht wie in früheren Arbeiten von der Künstlerin selbst hergestellt und installiert wurde, sondern „found footage“ darstellt, bleibt das Prinzip dasselbe: Auch hier ergänzt der kognitive Apparat des Betrachters das orthogonale Liniengerüst mit transparenten Flächen. Wenn die Linie in zeichentheoretischem Sinn durch Auslassung, Abwesenheit von Fläche und Farbe, auf ihr Repräsentandum verweist, so zeigt sich bei Grübl im Verweis auf eine nichtsichtbare, transparente und imaginäre Anwesenheit eine doppelte Abwesenheit. Dabei fungiert die Linie weniger als räumliche Grenze, als Trennung des Innen vom Außen, sondern als Medium zwischen Materiellem und Immateriellem, Sichtbarem und Imaginärem.
Der vom kubischen Liniengefüge aufgespannte Raum im Raum bildet nicht nur eine ikonische Gemeinsamkeit von Ohne Titel/Ostia mit früheren Arbeiten Grübls, sondern auch eine wesentliche Denkfigur der Studio-Serie, die von kubischen Volumina handelt, ohne lineare Umrisse zu zeigen. Man könnte meinen, der jeweiligen Neuordnung der Ateliergegenstände gehe die Vorstellung eines imaginären Kubus, quasi eines Behälters voraus, der von der Künstlerin sukzessive mit Gegenständen „gefüllt“ wird. Die fotografisch dokumentierte Stapelung erscheint in dieser invertierten Lesart weniger als Spur einer ehemaligen Anwesenheit, denn als Evokator einer imaginären, transparenten kubischen Form. Die Bilder der Studio-Serie zeigen in diesem Sinn Volumina doppelter Absenz, verborgene Raumfiguren, die jenseits der Sichtbarkeit „beobachtbar“ werden.
Ästhetischer Möglichkeitsraum
Grübls Studio-Serie „zeigt“ ontologisch fragwürdige Volumina, deren Status sich im Wahrnehmungsvollzug, im intermedialen Wechselspiel von Skulptur und Fotografie, stetig modifiziert. Räumliches wird jenseits der Idee vermeintlich dokumentarischer Wiedergabe, aber auch jenseits der Vorstellung eines letztlich statischen, triaxialen Behälterraums, als „Umstand“ lesbar, der sich zwischen Wahrnehmung, Imagination und Reflexion ereignet. Grübl stellt den reziproken Zusammenhang von Leere und Fülle, Abstraktion und Vielheit zur Disposition, um vermeintliche Wahrnehmungsgewissheiten und kanonisierte Raumvorstellungen zu destabilisieren. Eine eindeutige Betrachtungsweise scheint letztlich unmöglich. Die Studio-Serie zielt jedoch weder auf eine diagnostische, systemreflexive Raumanalyse, noch präferiert sie die phänomenologische und kinästhetische Dimension der räumlich-skulpturalen Präsenzen. Grübls kubische Stapelungen halten vielmehr unterschiedliche Lesarten von Raum in der Schwebe.Der wahrgenommene Raum wird in seiner potentiellen Vielgestaltigkeit als ästhetischer Möglichkeitsraum lesbar, der Wahrnehmende zum „Raumbildner“, der sich seiner perzeptiv-projektiven Tätigkeit gewahr wird. Somit erweisen sich Raumwahrnehmung und Raumvorstellung für den Betrachter als aisthetische Momente der „Welterzeugung“.