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Andreas Leo Findeisen: Abstraktion und Aktion
Es kann als Prädikat der Zivilisationsentwicklung gelten, dass für Prozesse, die wir immer noch oder wieder mit den Begriffen Moderne oder Globalisierung zu beschreiben gewohnt sind, der vernetzte Einsatz technischer Innovationen eine Beschleunigungswirkung hervorruft, eine neoreale Wucht, von einer zunehmend abstrahierten, jedenfalls für die meisten schwer dingfest zu machenden Dimensionalität. Diese wiederum prägt den mentalen Weltraum unserer alltäglichen Lebensführung. Die philosophische Aufgabe bestünde darin, diesen Formenwandel wieder und wieder neu zu beschreiben, mit Worten zu umfassen, ihn wie von außen betrachten zu können, um die Gegenwehr der Reflexion wieder spürbar zu machen.
Der Medienphilosoph Vilém Flusser ging in seinem Werk von fünf Entwicklungsstufen aus, aufgrund derer die Menschen sich durch ihren Mediengebrauch ihre Umgebung vom Leib halten, merken, erklären, bannen und gestalten können. Neben der Erfindung von Bildern, die Gegenstände mit drei Dimensionen einfangen, ist ihm die der Sprache zentral, denn diese bannt wiederum die Bilder, wofür mit einem weiteren Dimensionsverlust bezahlt wird. In der noch jüngeren Schriftsprache wird die Sprache dann quasi eindimensional zugerichtet, die Sachverhalte und ihre Verknüpfungen ziehen, jedenfalls in den Traditionen unserer Schriftalphabete, von links nach rechts am lesegeprägten Geist vorüber. In der Schriftkultur wird die Weltverarbeitung von den so Trainierten quasi auf Linie gebracht. Sie werden dafür, im Großen wie im Kleinen, mit dem historischen Bewusstsein ausgestattet, einem zeitlichen Vorstellungsraum zwischen Vorher und Nachher, oder auch logisch: zwischen Ursache und Wirkung. Dasselbe passiert folglich auch in diesen Sätzen, wenn man sie liest, von links nach rechts.
Doch Flusser zufolge ist die Zeit der Schriftkultur am Ausklingen, die „nulldimensionalen“ Möglichkeiten etwa des textähnlichen Programmierens, des Rechnens und schnellen Übermittelns von Texten und Bildern in Datenform, die er kommen sah, womit er Recht behielt, markieren für ihn den Ausgang unserer Entwicklung aus einer alphabetisch und damit auch logisch geordneten Weltdimensionalität. Stattdessen vermehrt sich die Anzahl von Technobildern, Graphiken, Logos und Skalen, die letztlich wieder Texte bedeuten. Das muss nicht schlecht sein, es ist allerdings tatsächlich neu und sollte als Verwirrung wahrgenommen und reflektiert werden.
Von daher muss es nicht verwundern, dass in dem Moment, ab dem ein Werk angefertigt und ausgestellt ist, gerne die Vertreter dieser angezählten Kulturform eingeladen werden, erklärende Worte neben zeitgenössische Bild- und Emotionsangebote der Kunst zu installieren. Will ein Kunstwerk als heutiges gelten dürfen, würde die künstlerische Aufgabenstellung darin bestehen, den Überfluss an alltäglichen Eindrücken und deren Assoziationen in Bezug auf einen eigenen Gefühlsraum oder ein Thema am richtigen Punkt zu analysieren, ihn quasi an einer medialen Sollschnittstelle konzeptuell zu teilen, um die neue Möglichkeit in einem zweiten Schritt dann in ein skulpturales Erleben, eine nur in und an diesem Werk sich eröffnende mögliche ästhetische Erfahrung zu bannen. Flusser unterschied dabei zwischen den Operationen der Imagination, wo ein Bild in den Betrachter eindringt und ihn beeinflusst, und, im Anschluss an die Kunsttheorie Immanuels Kants, der Einbildungskraft, die intuitiv abstrakte Vorstellungen ins fühlbar Konkrete zu übersetzen imstande ist. Diese Konkretion, das Werk als solches, ist allerdings nicht mit Simplizität zu verwechseln, ihr Inhalt kann höchst komplex bleiben, solange eine stimmige Analyse vorausging. Diese Vorarbeit der Analyse ist eine unerlässliche Bedingung insbesondere minimalistischer und konzeptueller Kunst. In der Kunstwelt der Gegenwart gehört Elisabeth Grübl zu deren maßgeblichen Vertreterinnen.
Das Innere der Ausfahrt – Sound und Ort
Der materielle Anteil der Installation f II, f III, f IV besteht aus einem niedrigen, gleichschenkligen Holzpodest und drei Kopfhörern. Wer das Kunstwerk erleben, wahrnehmen will, kann dies im Sitzen tun. Dieses Podest, Podium genannt, ist so bemessen, dass es verschiedene Konstellationen von diskreter Sozialität erlaubt. Einander Fremde können komfortablen Abstand wahren und die Klänge quasi einzeln erleben, miteinander befreundeten Werkgästen steht es frei, die Zustände ihrer inneren Raum- und Tonwahrnehmung miteinander abzugleichen, indem sie zugleich gestisch und mimisch kommunizieren, die Differenzeindrücke zwischen den drei Tönen durchprobieren. Von außen betrachtet fungiert das Podest selbst quasi als Bühne, auf der man Anderen beim Hören von Klängen zusehen kann.
Diese direkt am Gehörgang erklingenden Klangflächen, Drones genannt, bestehen aus langen Tongebilden, die im Bereich der experimentellen Klangmusik seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Sie sind das Ergebnis von Experimenten, die Grübl in einem Tonstudio, das bildenden Künstlern offen stand, in zahlreichen komplexen Überlagerungszyklen vornahm. Wer ihre früheren Arbeiten oder die ihr eigene Intensität der Konzentration und Kontraktion von der Werkserie der Studios her kennt, wird von der paradoxen Formulierung, sie habe die Endform quasi aus dem anfänglichen Soundmaterial auf eine Zeitstrecke herausgemeißelt, wenig überrascht sein. Die Komposition von Drones gehört zum Komplexesten, was sich an Klangerlebnissen umsetzen lässt. Drones entstehen aus dem bewussten Verzicht auf alles, was als Wiederholung auffallen könnte, weder Rhythmen oder Melodien noch Harmoniefolgen geben den Klangflächen ihre Kontur, die Bewegung spielt sich quasi im Hintergrund des Tons ab, in den ungewohnt langsamen Veränderungen der mikrotonalen Klangfarbenszenarios. Doch wer glaubt, „nur einen Ton“ als Hörangebot an die Ohren geboten zu bekommen, verkennt die im Alltag verdeckte Abgründigkeit des Hörsinns. Keine Kunstform kann an der Löslichkeit des inneren Personengefühls arbeiten wie die Klangmusik. Einer der Pioniere dieser Form der Soundkunst, der US-amerikanische Komponist Phill Niblock, bemerkte zur ihrer Eigenheit: „Sound kann deine Wahrnehmung verändern, (…) du fängst an etwas zu hören, doch wenn du nicht weiter versuchst, dich auf einen bestimmten Aspekt zu konzentrieren oder ihn zu intellektualisieren, öffnet er sich und du beginnst zu gleiten.“
Im ersten Moment erinnern die Sounds f I, f II und f III an das Geräusch, das sich im Innenraum eines Flugzeugs der Concorde-Serie während des Aufstiegs auf die Reiseflughöhe einstellen könnte. Allerdings ist beispielsweise einem der Sounds ein in der elektronischen Experimentalmusik als Sägezahn bekanntes Oszillieren beigemischt, so unumgehbar, dass jede Metaphorisierung, jeder assoziative Vergleich mit den Geräuschen schon bekannter Reisewelten sich nach kurzer Zeit von selber aufhebt. Gelingt es dann, nicht mehr weiter zu reflektieren, „öffnet“ sich der Sound und die Hörerin oder der Hörer gleitet in ihm nach oben, in einer abstrakten, doch gerade dadurch irritierend intensiven Bewegung, als wären Millionen von Volt und die Grundspannung mehrere nötig, um diese Form von kontrollierter Reisehochspannung zu erzeugen. Zudem suggeriert der Sound seinen Ort oben im Raum, noch weit unter der Decke, doch mit aller Kraft nach oben drängend. Grübl enführt quasi, während der Körper sitzt und die Augen die anderen Werke und Ausstellungsbesucher beobachten können, zum Passagengefühl in einem sonoren Raumgleiter. Das Ohnehin-schon-Gesehene, Gewohnte vor Augen, wird dieses aus dem Inneren einer rein audiophonen Ausfahrt heraus wahrgenommen.
Die Grüblsche Form der Intervention besteht hier gerade darin, dass sie die zwei Sinnlichkeiten Sehen und Hören trennt, um sie mit minimalen Eingriffen neu aufeinander zu beziehen. Es entsteht eine Überlagerung des Alltäglichen mit dem Eindruck, in einer enigmatischen Reiseapparatur des 4. Jahrtausends unserer Zeitrechnung nach oben-draußen unterwegs zu sein, eine stehende, überschallgeschwinde Verschiebung zur Hypernormalität hin.
Wand / Kitzeln / Lächeln – Der öffentliche Raum als Gruppenmassage
Eine weitere Konstellation diskreter Sozialität hat Grübl mit untitled, interaktive Installation (gemeinsam mit Manfred Grübl) erarbeitet. Vier handelsübliche elektrische Massagematten sind alles, was neben der Stromversorgung zur Verwendung kommt, die Setzungen der Künstlerin selbst bestehen in ihrer Inszenierung und damit ihrer verschobenen Funktionalität, sie ist somit der Duchampschen Kunstgriffmethode der Dekontextuierung verwandt. Die Gegenstände als solche bilden einen graphischen Typos des menschlichen Körpers ab, der, obschon lediglich Industrieprodukt, zu verdienen scheint, dass man ihn skulptural reinszeniert. Doch Duchamps Flaschentrockner wurde nie wieder zum Trocknen von Flaschen benutzt, mit seinem Rad ist niemand mehr gefahren. Bei Elisabeth Grübl ist dieser Funktionsverlust jedoch seinerseits aufgehoben, die Besucherinnen und Besucher können sich bedienen lassen, selbst einstellen, welche Körperzone massiert werden soll, die Intensität, die Intervalle. Wieder ist die Installation keine stille, denn das Summen, Kurbeln, Rütteln und Rattern der Elektromotoren ist durchaus hörbar, jede Veränderung eines individuellen Massagegefühls wird unweigerlich Teil eines sorglos verspielten Gruppenklangs, die Besucher erzeugen eine Massage-Jam-Session. Sie werden damit auch Teil des skulpturalen Ensembles, wenn sie nicht sogar die Hauptrolle spielen. Massagematten, obschon ein Massenprodukt, ist man als Einzelgänger zu verwenden gewohnt, in der Privatsphäre und in horizontaler Lage. Im Kunstkontext sind die Matten nun nebeneinander an der Wand angebracht.
Doch in diesem Fall spielt die Stimulation der Körpersinne eine tragende Rolle, denn ein Streicheln an den Waden, ein Kitzeln am Gesäß oder eine walkende Bewegung gegen die Rückenmuskulatur ist nichts, das üblicherweise im öffentlichen Raum erlebt würde. Die Vermeidung einer solchen Situation kann geradezu als Grundlage westlicher Subjektkonstitution, Disziplinierung und damit Zivilisation gelten. Deshalb hat man oder frau sonst kaum irgendwo die Möglichkeit, den Ausdruck körperlicher Berührungsgenüsse von ansonsten fremden Mitmenschen hautnah zu erleben, vielleicht noch im Gedränge eines Popkonzerts, einem überfüllten Fahrgastraum oder beim Aufguss in der Sauna. Niemals, oder eben: selten, im Kunstbereich. Wie schon in f II, f III, f IV kommt es zum sinnlichen Erlebnis einer hochenergetischen Statik, Stillstand bei ungewöhnlicher Bewegungs- und Energiezufuhr, doch diesmal heiterer, körperlicher, verspielter.
Das Anarchiv
Drei mittelgroße Modelle von Baukränen drehen sich in einem absurdistischen Ballett der Produktivkräfte um ihre eigene Achse. Fast wirkt es so, als versuchten sie noch, wie früher, sich weitere Bauelemente am Boden zu angeln und dann Stück für Stück, Stockwerk für Stockwerk einer stolzen, neuen Konstruktion aufzuschichten. Ganz so, als sei man hier Zeuge einer weiteren Höhe, einer neuen Funktion, die gerade im Entstehen begriffen wäre. Doch die Materialelemente, die sich um die Kräne türmen, bestehen lediglich aus alten, gleichwohl bespielten VHS-Kassetten. Ihre Masse und Anzahl verstärkt eher den Eindruck ihrer funktionalen Obsoletheit. An ihrem Archivierungswert darf gezweifelt werden, sind sie doch, weil noch mit Magnetband arbeitend, heute schon Dinosaurier der Medienevolution. Kein Abspielgerät steht zur Verfügung, und wer würde denn auch, bald 20 Jahre nach dem Siegeszug der Digitalisierungswerkzeuge, der scheinbar unaufhaltsam und weltweit vernetzten Festplatten und der bizarren Wunderlichkeit der Kopierbarkeit ihrer Inhalte, noch dem Surren und Schnappen des sich in eine rotierende Tonkopfmechanik einspulenden Trägermaterials zuhören wollen? Niemand, ein leerlaufender Formwille drückt sich am Rand einer Ton- und Bilddatenmüllhalde der 1980er Jahre aus. Immerhin, wenigstens sind diese Informationen noch materiell am Vermodern, man kann ihnen bei der Selbstlöschung quasi zuschauen und grimmig vermerken, selbst noch da zu sein. Bits kommen und gehen viel unauffälliger, denn gravierte Logik stirbt nicht, sie verschwindet auch nicht, sie annihiliert, sie ist per se anarchiv.
Ohne Landschaft - Strich / Striche
So langsam, dass er keinesfalls aus dem 21. Jahrhundert stammen kann, zieht sich ein schwarzer Streifen durch die Schirme dreier Monitore, von links nach rechts
Das letzte, was er zu tun scheint, wäre die Repräsentanz von etwas Heutigem. Doch möglicherweise ist das nur der erste Eindruck, ein Irrtum des gewöhnlichen, nur an Repräsentations- und Vernetzungserkenntnis interessierten Denkens. Denn es bleibt unklar: Ist es immer ein neuer Strich, der da aus dem Off geschickt wird? Oder ist es derselbe, das immergleiche Kind desselben Zyklus? Misst sich in ihm eine andere Zeitdimension, die sonst unbemerkt bliebe? Oder sollen wir ihm Selbstgenügsamkeit zugestehen, ist er einfach so da, weil er so ist?
Vielleicht wird, im Fragehorizont Flussers gedacht, hier, obschon selbst kein Text, der eindimensionale Rest eines Bildes zu sehen gegeben, bedeutet die Strichbewegung also doch ein tatsächliches Wort, welches wiederum eine innere Anschauungsform zum Inhalt hat? Und wenn ja, welches könnte sich in ihm verstecken? Verfolgt man diesen Gedankengang weiter, wäre diese besondere Art von Eindruck weder mit den Lippen sinnvoll mitzuteilen, ohne in semantische Trivialität zu verfallen, noch irgendwie anders von einer Person auf eine andere übertragbar. Ohne zu verraten, ob diese Unmöglichkeit eher der Struktur eines Rätsels oder eines Geheimnisses zu verdanken ist, vermittelt dieses Werk möglicherweise eine chiffrierte Einladung zum eigenen Nachvollzug der Bedingung der Möglichkeit, sich den inneren Eindruck von Zeitlichkeit als solcher zu vergegenwärtigen, erlebbar nur in einem sprachbefähigten Körper, der hier kann. Oder ich. Oder jetzt.
Die inhaltliche Skala der Grüblschen Minimalsetzungen spannt sich  vom kulturell monströsen Formatwechsel im Bereich der Anarchive zum öffentlichen Raum als demokratiefördernder Gruppenmassage, vom stehenden Überschallgefühl der Ausfahrt in die Zukunftsnormalität zur Offenlegung des Hier-Könnens. Der Einsatz der Mittel überzeugt, denn wer wollte schon mit den Mitteln der Kunst in die Zukunft gleiten, ohne wenigstens im Ausmaß eines Schmetterlingsnippens die Erinnerung an die fernen Schichten archaischer Ungeteiltheit, mit der Vilém Flusser seine Menschheitsreise ansetzt, mit evoziert zu bekommen?